Lasse mich das erklären: Alle wollen „Agile“ sein. Dabei geht es immer um mehr Umsatz, durch Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen. Wenn wir ehrlich sind, eigentlich nur um Effizienzsteigerung. Das hat auch Jeff Sutherland erkannt, der Co-Creator von Scrum. Als ich mit ihm nach einem Workshop mal bei Grillwürstchen und Bier zusammensaß, meinte er zu mir, der Titel seines Buches „The Art of Doing Twice the Work in Half the Time“ verkaufe sich beim Top-Management eben besser als ein Titel, wie „Be effective“.

Die agilen Versprechen von Selbst-Organisation, Reduzierung von Abhängigkeiten, kurzen Entscheidungswegen, Optimierung von Prozessen und vor allem schnellere Reaktion auf Veränderung können Sie aber nur kontinuierlich weiterbringen, wenn das Ziel nicht „schneller, mit weniger, für mehr Umsatz“ geht, sondern das Ziel ein anderes ist: Kreativität (man beachte im Titel von Sutherland das „Art“).

Unternehmen müssen kreativer werden


Kreative Unternehmen können sich schnell anpassen, weil Sie in einer Krise gute Ideen haben.
Kreative Unternehmen begeistern ihre Kunden.
Kreative Unternehmen finden Wege, Dinge nicht zu tun (Reduzierung von „waste“).
Kreative Unternehmen produzieren wahren Wert (value).

Mit Kreativität meine ich nicht, dass jeder in Brain Storming Sessions dutzende von – fast immer nutzlosen – Ideen fabriziert. Ich meine auch nicht, dass jeder aus seiner Weltsicht heraus unreflektiert das umsetzt oder umsetzen lässt, was nach seiner Meinung das Richtige ist. Was ich meine, ist die Art von Kreativität, die entsteht, wenn gute Leute zusammenarbeiten, ihre Expertise und Weltsichten zusammenbringen und mutig Dinge ausprobieren. Wenn man, nachdem man sich lange mit einem Thema beschäftigt hat, plötzlich und unerwartet ein Aha-Erlebnis oder eine Eingebung hat. Das bedarf Zeit, Geduld und Raum. Aber nur so entstehen emergente Lösungen, die neu und überraschend sind und das Unternehmen anpassbarer, kundenorientierter und schneller machen. 

Anders ausgedrückt: Agilität brauchst Du, wenn
- Dein Unternehmen weiter kommen will
- Es resilient und vielleicht sogar antifragil werden will
- Es für die Zukunft vorbereitet sein will
- Es das volle Potenzial jedes Mitarbeiters ausschöpfen will

Das Ziel ist nicht ein effizienteres Unternehmen, sondern ein dynamik-robustes, innovatives Unternehmen, also ein kreatives Unternehmen

Warum ist das so? Lösungen von der Stange funktionieren nicht gut in einer komplexen Welt, jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Das bedeutet, abseits der ausgetretenen Pfade zu suchen und gute Lösungen zu finden. Das ist das Gegenteil von Effizienz, das ist Kreativität.

Die komplexe Welt ist dabei nicht nur der Grund, kreativer zu werden, sondern auch die Voraussetzung dafür, denn nur außerhalb der Logik von Ursache und Wirkung findet unser Gehirn Eingebung. Komplexität reduzieren oder noch besser auflösen ist damit genau der falsche Weg! Willst Du das trotzdem, solltest Du Dich fragen, ob das wirklich etwas anderes ist, als das, was Du ohnehin schon seit Jahren versuchst. Einstein hat mal gesagt: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ 

Kreativität geht nicht auf Bestellung, man kann sie nicht erzwingen. Man muss sie zulassen. Bei manchen kommt sie unter der Dusche, bei einem Spaziergang, beim Essen mit einem Kollegen, in der Kaffeeküche, in der Retrospektive oder wenn man einfach mal an gar nichts denkt und gar nichts denkt. Anders ausgedrückt: Kreativität kommt, wenn man ihr Zeit, Raum und Ruhe gibt.

Zerstreuung versus Sammlung

Was in den Unternehmen passiert, ist genau das Gegenteil. Getrieben von Quartalsergebnissen und Krisen ist jeder den ganzen Tag beschäftigt, quetscht das letzte bisschen „waste“ aus den Prozessen, definiert seinen Status darüber, keine Zeit zu haben. Langeweile wird als Schmerz empfunden, der nicht auszuhalten ist. Jeder hat einen vollen Terminkalender, hetzt von Besprechung zu Besprechung, macht Überstunden. Die Abgabefristen werden kürzer, die Entscheidungen immer zahlreicher, die Mitarbeiter immer weniger. 

In unserer Freizeit ist es ähnlich. Fernsehen, Computerspiele, Social Media, Hobbies, ein Zweitjob, unsere Kinder … wir fühlen uns offenbar nur wertvoll, wenn wir keine freie Minute mehr haben, um einfach mal zu sein, nichts zu tun, die Gedanken schweifen zu lassen, zur Besinnung zu kommen. Wir suchen nach Zerstreuung, nicht nach Sammlung.

Sammlung ist Fokus, eine der Tugenden, die wir agilen Coaches den Unternehmen vorschlagen, um effizienter und effektiver zu werden. Mein Lieblingszitat aus dem Film Matrix ist: „Wie willst Du jemals Zeit haben, wenn Du sie Dir nicht nimmst.“ Was wäre, wenn wir die Zeit, die wir durch mehr Effizienz sparen, nicht für "mehr" ausgeben, sondern uns stattdessen auf Kontemplation und. Freiheit konzentrieren?

Tief in uns haben wir erkannt, dass es so nicht weitergehen kann, sonst gäbe es nicht die vielen Angebote für Achtsamkeit und Meditation. Wir merken nicht, wie Paradox das ist: Wir versuchen, Raum, Zeit und Ruhe zurückzubekommen, indem wir uns noch mehr in den Terminkalender eintragen. Dabei ist die Lösung so einfach: Einfach mal nein sagen, einfach mal hinsetzen, einfach mal nichts tun. 

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Ich zum Beispiel finde den Raum, die Zeit und die Ruhe unter der Dusche und beim ersten Kaffee, zwischen 6:00 Uhr - 09:00 Uhr morgens. Regelmäßig habe ich dann meine besten Einfälle, um meine Kunden nach vorne zu katapultieren. Diese Lösungen würde ich nie finden, wenn ich immer nur Wissen aufnehmen und anwenden würde, dauernd beschäftigt und abgelenkt wäre. Ich spreche also aus Erfahrung. 

Die Gefahren lauern überall

Ich habe mich in letzter Zeit dabei ertappt, selbst immer wieder in die Effizienz-Falle zu rutschen. Wie zuvor erwähnt, bin ich seit November freiberuflich tätig, das erste Mal seit über 10 Jahren. Die Welt hat sich in der Zeit verändert. Früher habe ich ein paar Leute angerufen und die ein oder andere Mail geschrieben, schon war ich im Austausch und habe Aufträge bekommen. 

Heute tue ich mich damit deutlich schwerer. Marketing-Gurus raten mir, mich als Marke aufzubauen, indem ich mich bekannt mache in News, Blogs, Podcasts, YouTube, Xing, LinkedIn, Facebook, Instagram, … mehrmals am Tag natürlich, 7 Tage die Woche. Ich verstehe, warum sie das raten. Jeder schreit nach Aufmerksamkeit, wie auf einem Basar oder auf dem Großmarkt von Bangkok, und es wird immer lauter. Ich verstehe auch den Sinn eines Slogans und dass die Überschriften der Artikel kurz und knackig sein sollten, sodass ein Vierjähriger sie versteht. Denn niemand hat mehr die Zeit, genauer hinzugucken und zu lesen. Lieber 100 Posts am Tag scannen, als einen guten Artikel lesen. Fear of missing out: Man könnte was verpassen.

Wenn ich mich aber darauf einlasse und den ganzen Tag poste, schreibe, Videos drehe und kommentiere, lande ich genau in dem gleichen Hamsterrad, wie meine Kunden und versuche, effizienter zu werden. Es gibt in der Coaching-Szene den Ausspruch „practice what you preach“, frei übersetzt „lebe vor, was Du anderen rätst“. Manchmal gar nicht einfach, aber ich arbeite daran.

Angebot und Nachfrage

Wenn ich ein Angebot mache, von dem ich weiß, dass es dem Unternehmen nicht weiterhilft, macht mich das zu einem Lügner! Mache ich das trotzdem, um den Auftrag zu bekommen, bin ich nicht besser als die typische Unternehmensberatung! Vor einem halben Jahr hat mir der CEO einer Beraterfirma, die von ehemaligen McKinsey-Beratern gegründet wurde, gesagt: "Wenn der Kunde 400 Seiten Powerpoint-Folien haben möchte, bekommt er die auch, selbst wenn das eine schlechte Idee ist." Mit anderen Worten: Gebe dem Kunden, was er will, nicht was er braucht.

In den letzten Wochen habe ich das Gleiche zweimal auch bei agilen Coaches erlebt und habe mich, ehrlich gesagt, ziemlich geschämt. Beide Male unterhielt ich mich mit, von mir sehr geschätzten, Kollegen über unsere Angebote und über die Hauptprobleme von Firmen. 

Beide sagten mir, ich wäre dumm, wenn ich schon in meinem Angebot darauf hinweise, dass Effizienz nicht das Problem ist, was die Unternehmen lösen sollten. Dass die Forderung nach mehr Zeit, Raum und Ruhe nicht das ist, wofür die Firmen zahlen würden. Besser wäre es, sie da abzuholen, wo sie sind und ihnen Effizienz- und Umsatzsteigerung zu verkaufen. Man könne doch dann später darauf hinwirken, dass dieses Ziel irreführend ist, also nachdem man den Auftrag hat.

Ich glaube hingegen, dass ich eine partnerschaftliche und erfolgreiche Beziehung zu meinen Kunden nur dann aufbaue, wenn ich von vornherein ehrlich bin. Vielleicht bekomme ich so weniger Aufträge, aber meine Kunden schneller Erfolg und sie wissen, was sie erwartet

Trotzdem stellen sich für mich folgende Fragen:
- Wie mache ich auf mich aufmerksam, wenn jeder nach Aufmerksamkeit schreit?
- Wie verkaufe ich das Richtige, wenn jeder nach dem falschen sucht?

Das sind keine rhetorischen Fragen, ich weiß die Antwort wirklich nicht. Ich weiß auch, warum ich es nicht weiß: Es ist komplex. Eine Möglichkeit, mit Komplexität umzugehen ist Agilität: In schnellen Zyklen kreativ werden, Dinge ausprobieren, lernen. Practice what you preach.