Eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen Kompliziertheit und Komplexität zu treffen ist wichtig, denn während die klassischen Methoden den 20. Jahrhunderts gut in einem komplizierten Umfeld funktionieren, braucht es agile Methoden in einem komplexen Umfeld. 

Kompliziertheit und Komplexität werden oft synonym verwendet. Selbst wenn nicht, gibt es Unterschiede in den Definitionen, je nachdem, in welcher Disziplin man nachliest. Die Mathematik definiert den Begriff anders, als die Sozialwissenschaft. Die Agile Community anders als die Systemtheorie. 

Ich definiere die Begriffe wie folgt: 

Kompliziertheit weist auf etwas hin, dass noch nicht verstanden ist, aber mit Expertise verstanden werden kann - zum Beispiel durch Analyse. Es handelt sich um Ursache-Wirkung Zusammenhänge, aus A folgt B. Das ist lineares Denken, wie wir es im Elternhaus, in der Schule und im Beruf gelernt haben. Mit Kompliziertheit haben wir es immer dann zu tun, wenn es um Maschinen geht, um eine Steuererklärung oder generell, um stabile, geschlossene Systeme. Geschlossene Systeme sind Systeme, die wenig Interaktion mit dem Umfeld haben.

Beispiel: Letztens hatte ich einen Unfall mit meinem Auto. Es war ziemlich beschädigt, aber nach einer Woche in der Werkstatt sieht es jetzt wieder aus wie neu. Das ist toll. Ich kann mein Auto auseinander bauen, Teile austauschen und es wieder zusammenbauen, so dass es wieder funktioniert und aussieht, wie zuvor. Das ist eine Eigenschaft von komplizierten Systemen. 

Komplexität hingegen bedeutet, dass ein System verwoben ist, das heißt es steht in Wechselwirkung mit sich selber und mit anderen Systemen. Die einzelnen Teile des Systems sind zudem wiederum Systeme. Ein bißchen, wie bei der Matroschka. Lineares Denken funktioniert in komplexen Systemen nicht, da es mehrere Ursachen und mehrere (Wechsel-)Wirkungen geben kann, je nach Kontext und Situation. Wir kommen also nur mit nicht-linearem Denken weiter. Das bedeutet, wir müssen erst die Zusammenhänge und das Wechselspiel der Elemente in dem betrachteten System  beobachtet haben, bevor wir eine Aussage treffen können, wie sich das System in einer bestimmten Situation verhalten hat. Am Besten funktioniert das, wenn wir einen Impuls (zum Beispiel mit Hilfe eines Experiments) in das System geben und dann abwarten, was passiert. 

Mit Komplexität haben wir es also zu tun, wenn es um Vernetzung geht oder mit dynamischen, sich verändernden, lebenden Systemen. Beispiel hierfür sind Tieren und Menschen, Gruppen von Menschen, Unternehmen mit einem hohen Anteil von Wissensarbeit oder generell, offene Systeme. Offene Systeme zeichnen sich durch viel Interaktion mit dem Umfeld aus. 

Beispiel: Ich habe oben erklärt, dass ein Auto kompliziert aufgebaut ist, die Herstellung aber ist komplex. Es gibt unzählige Teams, die an der Entwicklung des Autos beteiligt sind. Ein Team ist für die Bremsen zuständig, ein anderes Team für die Sitze, ein drittes für den Rahmen usw. Entscheidet sich nun das Sitze-Team, diese 5 cm breiter zu machen, muss das Rahmen-Team Anpassung vornehmen, was sich wiederum auf die Position der Bremsen auswirkt … ein anderes komplexes System ist unser menschlicher Körper. Zerlegen wir diesen und setzen ihn wieder zusammen, haben wir nicht das gleiche Ergebnis wie zuvor (wir sind tot). Eine typische Eigenschaft komplexer Systeme. Eine tabellarische Übersicht hilft zur Verortung, wann wir es mit komplizierten und wann mit komplexen Systemen zu tun haben: 

Meine *Faustregeln* für die Bestimmung sind: 

- Je mehr Dynamiken und vernetzte Variablen in einem System vorhanden sind, desto eher haben wir es mit komplexen Systemen zu tun
- Sind Menschen beteiligt, haben wir es immer mit komplexen Systemen zu tun, denn Menschen sind komplex und handeln komplex.